„Gaskunden müssen sich auf eine Verdreifachung der Abschläge einstellen – mindestens“

Bundesnetzagentur-Chef Müller im Interview –
Bonn. Klaus Müller ist während der Gaskrise als Präsident der Bundesnetzagentur so etwas wie der Mann der Stunde. Seine Behörde ist maßgeblich daran beteiligt, wenn es darum geht, die Versorgung mit Gas zu überwachen. Seine politische Karriere führte Müller, 1971 in Wuppertal geboren, zunächst in den Deutschen Bundestag, wo er von 1998 bis 2000 als Grünen-Abgeordneter tätig war. Anschließend arbeitete er als Umweltminister in Schleswig-Holstein. 2014 bis Anfang dieses Jahres war er Vorstand des Verbraucherzentrale-Bundesverbands. Seit dem 1. März ist er Präsident der Bundesnetzagentur.

Wie lange haben Sie heute Morgen geduscht, Herr Müller?

Ich stoppe nicht die Zeit. Aber da ich einen Auftritt im Frühstücksfernsehen hatte, musste es schnell gehen.

Sie fordern die Deutschen nahezu täglich auf, mehr Gas zu sparen. Sparen die Menschen noch nicht genug?

Nein, leider nicht. Die Speicher sind erst zu knapp zwei Dritteln gefüllt. Das ist mehr als in den vergangenen Jahren, aber nicht genug. Und die Unterbrechung der Lieferung durch Nord Stream 1 wirkt sich jetzt erst aus.

Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, steht vor dem Haus der Bundesnetzagentur.
© Quelle: Oliver Berg/dpa

Der Gasverbrauch war doch im Juni niedriger als im Vorjahr – und das, obwohl der Monat im Schnitt kälter als im Vorjahr war.

Es gab auch sehr heiße Tage, aber das ist nicht mein Punkt. Wir dürfen uns nicht vom Wetter abhängig machen. Natürlich würde ein milder Winter helfen, aber wollen wir uns darauf wirklich verlassen? Viele Menschen geben sich bereits große Mühe, Gas einzusparen. Und trotzdem sage ich: Da geht noch mehr.

Werden wir im Winter bereuen, dass wir im Sommer Frei- und Spaßbäder geheizt haben?

Ich befürchte ja. Und ich freue mich über jede Kommune, die bereits jetzt Konsequenzen zieht. Jedes unbeheizte Freibad hilft – vor allem wegen der Signalwirkung und weil wir Gas für Wichtiges brauchen. Wir müssen in die Köpfe der Menschen reinbekommen, dass die Lage ernst ist.

Die meisten Menschen regieren ja erst dann auf eine neue Lage, wenn sie sie im eigenen Geldbeutel merken. Die Abschläge vieler Gaskundinnen und Gaskunden haben sich noch gar nicht verändert.

Das werden sie aber, das kann ich garantieren. Bei denen, die jetzt ihre Heizkostenabrechnung bekommen, verdoppeln sich die Abschläge bereits – und da sind die Folgen des Ukraine-Krieges noch gar nicht berücksichtigt. Ab 2023 müssen sich Gaskunden auf eine Verdreifachung der Abschläge einstellen, mindestens.

Wer derzeit 1500 Euro im Jahr bezahlt, liegt künftig bei 4500 Euro?

Oder sogar noch ein bisschen darüber, das halte ich für absolut realistisch. An den Börsen haben sich die Preise zum Teil versiebenfacht. Das kommt nicht alles sofort und nicht in vollem Umfang bei den Verbrauchern an, aber irgendwann muss es bezahlt werden. Und deshalb ist es ja auch so sinnvoll, jetzt stärker zu sparen. Jede nicht verbrauchte Kilowattstunde hilft, Abschaltungen bei der Industrie zu verzögern oder im besten Fall zu vermeiden. Und sie hilft sehr konkret im eigenen Portemonnaie.

Der größte Gasimporteur Uniper hat staatliche Hilfen beantragt. Diskutiert wird auch ein Mechanismus aus dem Energiesicherheitsgesetz, der erlauben würde, höhere Beschaffungskosten über eine Umlage sofort auf alle Gaskundinnen und Gaskunden umzulegen. Sind Sie dafür?

Das ist eine politische Entscheidung, die man sehr genau abwägen muss. Hat der Staat genug Geld, um die Preissteigerung für alle abzufedern – auch für Behördenpräsidenten und Vorstandschefs? Dann könnte man mit den Milliarden die Unternehmen unterstützen und gut ist.

Ich verstehe den Finanzminister aber so, dass nicht mehr so viel Geld da ist. Also müssen wir darüber reden, die Preise durchzugeben und dann zielgenau denen zu helfen, die sie nicht mehr tragen können. Klar ist: Wenn die Umlage kommt, ist das Preissignal für die Verbraucher sofort da. Bei den Sparanstrengungen würde das vermutlich helfen.

Was würde der ehemalige Chef der Verbraucherzentrale Klaus Müller zu solchen Gedankenspielen sagen?

Sie würden ihn schmerzen, und sie schmerzen auch den Präsidenten der Bundesnetzagentur. Ich habe mich als Verbraucherschützer immer für die Menschen eingesetzt, und jetzt verlieren sie einen Teil ihres Wohlstandes. Das ist furchtbar, und ich weiß sehr genau um die Härten, die das für viele bedeutet. Wichtig ist deshalb, dass der Staat denen hilft, die die zusätzliche Belastung nicht werden tragen können oder die sogar von Energiesperren bedroht sind.

Was können die Menschen tun, um sich vorzubereiten?

Ich habe zwei Botschaften. Erstens: Erhöht freiwillig euren Abschlag oder legt jeden Monat etwas Geld zurück, etwa auf ein Sonderkonto. Zweitens: Redet mit eurem Vermieter oder einem Handwerker, wenn er noch verfügbar ist. Was kann man tun, um die Heizung zu optimieren? Etwa die Hälfte aller Gasthermen in Deutschland ist nicht gut eingestellt. Mit kleinem Aufwand lässt sich da ein großer Spareffekt erzielen.

Viele Leute rennen in die Baumärkte, um Heizlüfter oder Ölradiatoren zu kaufen. Ist das sinnvoll?

Geld sparen wird man mit strombetriebenen Heizgeräten im Vergleich zu einer Gasheizung nicht. Aber mein Gefühl ist: Die meisten Menschen kaufen diese Geräte, um für den schlimmsten aller Fälle vorbereitet zu sein, dass bei ihnen zu Hause kein Gas mehr ankommt. Ich halte ein solches Szenario für nicht sehr wahrscheinlich.

Sie können also garantieren, dass im kommenden Winter alle Privathaushalte mit Gas versorgt werden?

Die deutsche und die europäische Rechtslage sehen vor, private Haushalte bis zum Ende zu schützen. Versprechen kann ich trotzdem nichts, weil ich nicht weiß, was noch alles passiert. Aber selbst im schlimmsten Szenario wird Deutschland weiter Gas bekommen aus Norwegen und von Terminals aus Belgien oder Holland, demnächst auch direkt von Terminals an der deutschen Küste. Übrigens kann es auch sein, dass Russland die Lieferung durch Nord Stream 1 nach der Wartung wieder aufnimmt. Dann hätten wir vom Volumen her kein Problem. Aber es ist wie mit dem Wetter: Wir dürfen uns nicht darauf verlassen.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat für den Fall einer längeren Mangellage ein Fragezeichen hinter die priorisierte Belieferung privater Haushalte gemacht. Ist es nicht verständlich, dass die Menschen angesichts solcher Äußerungen unsicher werden?

Es geht jetzt darum, in diesem Winter alles zu tun, damit wir eine dauerhafte und langfristige Unterbrechung der Gasversorgung verhindern. Jeder kann dabei seinen Beitrag leisten und sich vorbereiten. Nach dem Winter wird die Politik zu entscheiden haben, ob sich die aktuelle Regelung bewährt hat.

Wenn eine Gasmangellage eintritt, muss die Bundesnetzagentur entscheiden, welche Betriebe noch versorgt werden und welche nicht. Sind dabei auch stundenweise Abschaltungen denkbar?

Absolut. Wir arbeiten hart daran, den Notfall zu vermeiden, aber falls er doch eintritt, würden wir versuchen, die Eingriffe so minimalinvasiv wie irgendwie möglich durchzuführen. Ich gehe davon aus, dass wir in diesem Szenario regional unterschiedliche Lagen haben werden, je nachdem, von wo das Gas nach Deutschland strömt. Und wenn dann der Druck im Netz sinkt, helfen womöglich auch schon kurze Abschaltungen einzelner Großverbraucher, um die Stabilität wieder herzustellen.

Werden sie eher bei der Grundstoffindustrie Abschaltungen vornehmen oder eher am Ende der Wertschöpfungskette?

Die Frage wird auch unter Ökonomen hitzig diskutiert. Die einen sagen, ohne Grundstoffe steht irgendwann die ganze Lieferkette. Die anderen sagen, Grundstoffe lassen sich auch aus dem Ausland importieren. Wir bauen zurzeit eine digitale Plattform auf, die wir mit Daten der Unternehmen füttern. Auf deren Grundlage werden wir im Winter Entscheidungen treffen können, falls das nötig sein sollte.

Bundesnetzagentur warnt: Zahlungen für Gas werden sich verdreifachen

Wie lange wird die Ausnahmesituation beim Gas andauern?

Der Bundeswirtschaftsminister rechnet damit, dass wir im Sommer 2024 weitgehend unabhängig von russischem Gas sein werden. Das heißt, uns stehen zwei unsichere Winter bevor, und es könnte sein, dass die Versorgungssituation im zweiten Winter noch angespannter wird als im ersten. Danach wird sich die Lage langsam normalisieren.

Auch die Preise?

Auf das alte Niveau kommen wir sicher nicht zurück. Aber ich hoffe schon, dass das Erschließen neuer Quellen für LNG mittelfristig zu einer Beruhigung der Märkte führen wird.

In der Krise rufen plötzlich alle nach dem Staat. War die Liberalisierung der Energiemärkte rückblickend ein Fehler?

Ich glaube, dass es in den wenigsten Fällen gelingt, in einer Krise so viel Abstand zu gewinnen, um eine wirklich gute Analyse zu tätigen. Aber die Frage, was wir aus dieser Krise lernen, ist sehr relevant. Die Liberalisierung des Energiemarktes hat Privatverbrauchern und Unternehmen viele Kostenvorteile gebracht. Das ist keine Frage. Gleichzeitig sehen wir, dass Versorgungssicherheit und Diversifizierung viel zu klein geschrieben worden sind. Es gibt also Dinge, die der Markt geregelt hat, und welche, für die er blind war. Daraus müssen wir unsere Schlüsse ziehen.