- Das Infektionsgeschehen in Deutschland nimmt augenscheinlich wieder an Fahrt auf.
- Zum sechsten Mal in Folge ist die Sieben-Tage-Inzidenz gestiegen.
- Expertinnen und Experten sehen gleich mehrere Ursachen dafür – und warnen vor verfrühten Lockerungen.
Bis vor wenigen Tagen sah es noch so aus, als wäre das Coronavirus endlich unter Kontrolle. Die Fallzahlen in Deutschland gingen Schritt für Schritt zurück, ebenso wie der R-Wert, der angibt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Bund und Länder einigten sich auf stufenweise Lockerungen – mit dem Ziel, tiefgreifende Maßnahmen wie die Masken- und Homeofficepflicht sowie Zugangsbeschränkungen zu Veranstaltungen oder der Gastronomie am 20. März endgültig zu beenden.
Doch inzwischen dämpft der Blick auf die Corona-Kennzahlen die Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Corona-Pandemie wieder. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist am Montagmorgen zum sechsten Mal in Folge gestiegen und liegt damit nun bei 1259,2. Ein ähnlicher Trend zeichnet sich beim R-Wert ab: Das Robert Koch-Institut (RKI) beziffert ihn aktuell mit 1,0. Schwankt die Kennzahl um eins, bedeutet das, dass das Infektionsgeschehen stagniert.
War es das also nun mit dem entspannten Corona-Frühling?
Virologe: Lockerungen kamen zu früh
„Dass die Infektionszahlen jetzt noch einmal ansteigen, ist nicht überraschend“, sagt Martin Stürmer, Virologe und Laborleiter am IMD-Labor für interdisziplinäre Medizin und Diagnostik in Frankfurt. Der Anstieg sei vor allem die Folge von verfrühten Lockerungen. „Ich hätte mir gewünscht – aber dafür ist es mittlerweile schon zu spät –, dass wir mit den Lockerungen noch zwei, drei, vielleicht sogar vier Wochen gewartet hätten.“ So sei das Niveau der Fallzahlen noch zu hoch gewesen, als erste Maßnahmen gelockert wurden.
Hätte man noch einige Wochen mit den Lockerungen gewartet, hätte man zudem von saisonalen Effekten profitieren können, so Stürmer. Treffen mit Freunden und Bekannten wären dann vielleicht schon wieder im Freien möglich gewesen, in den Schulen wäre es einfacher gewesen zu lüften. „Jetzt müssen wir die Quittung für die frühen Lockerungen tragen, und hoffen, dass sich das Ganze nicht zu einer massiven Flut an Infektionen unbekannten Ausmaßes entwickelt.“
Omikron-Subtyp BA.2 ist unsicherer Faktor
Modelliererinnen und Modellierer der Technischen Universität Berlin hatten Ende Februar vor einem erneuten Anstieg der Fallzahlen gewarnt. Hauptauslöser dafür war in ihren Berechnungen die Omikron-Untervariante BA.2. Die Virusvariante gilt als noch ansteckender als der bisher dominierende Omikron-Subtyp in Deutschland, BA.1.
In seinem aktuellen Wochenbericht gibt das RKI den Anteil von BA.2 an den positiven Corona-Proben mit knapp 38 Prozent an. „Aufgrund der leichteren Übertragbarkeit der Sublinie BA.2 kann eine deutlich langsamere Abnahme oder erneute Zunahme der Fallzahlen nicht ausgeschlossen werden“, schreibt die Behörde. Schlimmstenfalls könnte eine Welle mit der Omikron-Untervariante das Niveau der Fallzahlen von Mitte Februar um das bis zu 2,5-Fache übersteigen, prognostizierten wiederum die Berliner Modelliererinnen und Modellierer.
Auch Virologe Stürmer beobachtet, dass sich immer mehr Menschen mit BA.2 infizieren. Er verweist auf Untersuchungen aus Dänemark, die darauf hindeuten, dass es selbst nach einer Infektion mit BA.1 noch möglich ist, sich mit BA.2 anzustecken. „Es ist noch nicht ganz klar, wie sicher wir nach dieser Omikron-Welle vor BA.2 sind″, gibt er zu bedenken.
Ältere kommen vermehrt ins Krankenhaus
Je mehr Infektionen es mit dem Omikron-Subtyp gibt, desto eher wird sich zudem zeigen, wie gefährlich er ist. Während BA.1 seltener dazu führte, dass Covid-19-Erkrankte im Krankenhaus behandelt werden mussten, ist dazu bei BA.2 noch wenig bekannt. Internationale Studien aus Japan, Südafrika und Dänemark sind bisher zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Sollte sich herausstellen, dass die Virusvariante schwerere Krankheitsverläufe verursacht, dürfte die Zahl der Covid-19-Patientinnen und -Patienten deutlich zunehmen, was eine erneute Belastung für die Krankenhäuser bedeuten würde.
Die Lage in den Kliniken bleibt aktuell weiter angespannt. Vor allem in der Altersgruppe der über 80-Jährigen steigt die Zahl der Neuaufnahmen. Dieser Anstieg sei aber „moderat und schwächer als in den ersten vier Covid-19-Wellen“, heißt es im RKI-Wochenbericht. Ohnehin sei in der älteren Bevölkerung der Scheitelpunkt der Omikron-Welle noch nicht überschritten. Das heißt, es wird zu weiteren Infektionen, und damit wohl auch häufiger zu Krankenhausbehandlungen und Todesfällen unter Älteren kommen.
Modellierer: Jeder wird sich irgendwann mit Virus anstecken
Doch BA.2 betrifft nicht nur ältere Menschen. Früher oder später werde sich jeder mit dem Coronavirus infizieren, vielleicht sogar mehrfach, ist Mathematiker Jan Fuhrmann überzeugt. An der Universität Heidelberg erstellt er regelmäßig Simulationsrechnungen zum Infektionsgeschehen in Deutschland. „Durch Kontaktbeschränkungen kann man dieses Infektionsgeschehen und die damit einhergehenden Krankheits- und Todesfälle lediglich hinauszögern“, sagt er.
Dass sich jeder mit dem Virus anstecken wird, ist auch deshalb naheliegend, weil BA.2 – wie schon der Vorgänger BA.1 – immunevasiv ist. Die Virusvariante ist also in der Lage, die Immunantworten von Geimpften und Genesenen teilweise zu umgehen. Einen hundertprozentigen Infektionsschutz gibt es somit nicht, wenngleich die Impfungen das Risiko für schwere Krankheitsverläufe deutlich reduzieren.
Impflücke bleibt unverändert
Allerdings setzt offenbar nicht jede Bürgerin und jeder Bürger in Deutschland auf diesen Schutz vor schweren Erkrankungen, den die Corona-Impfstoffe bieten. Knapp 20 Millionen Menschen sind noch nicht gegen Covid-19 geimpft – das sind etwas weniger als ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Diese Impflücke dürfte Deutschland im Herbst wieder Probleme bereiten, wenn die Infektionszahlen nach einem voraussichtlich ruhigen Sommer wieder steigen werden.
„Wir müssen daran arbeiten, dass wir mit einer sehr breiten Immunität – geimpft und/oder genesen – und einer möglichst kleinen Impflücke, vor allem in den vulnerablen Gruppen, in den Herbst gehen“, sagte Infektiologin Marylyn Addo vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Mitte Februar im Gespräch mit dem Redaktions Netzwerk Deutschland (RND). Ansonsten würden wieder vermehrte Infektionen und Krankenhausaufnahmen, zum Teil auch auf der Intensivstation, drohen.
Nachfrage nach Novavax-Impfstoff ist gering
Um die Impflücke zu verkleinern, kommt seit Ende Februar auch der Corona-Impfstoff von Novavax zum Einsatz. Die Hoffnungen waren groß, mit diesem Proteinvakzin die Impfskeptiker und -skeptikerinnen zu überzeugen, die Bedenken gegenüber den zumeist eingesetzten mRNA-Präparaten von Biontech/Pfizer und Moderna haben. Doch die Nachfrage nach dem Novavax-Impfstoff ist nicht so groß wie erhofft.
„In den Impfzentren haben wir noch keinen Run auf den neuen Novavax-Impfstoff beobachtet“, sagte Helmut Dedy, Chef des Deutschen Städtetages, kürzlich auf Anfrage des RND. „Noch ist es aber zu früh, aus der Zurückhaltung der ersten Tage Schlüsse zu ziehen. Wir wollen es schaffen, noch mehr Menschen zu einer Corona-Impfung zu bewegen.“
RKI: „Sehr hoher Infektionsdruck“ in Deutschland
Dass das Novavax-Präparat momentan nicht allzu gefragt ist, erklärt sich Virologe Stürmer mit fehlenden Impfanreizen. Maßnahmen wie die 2G- oder 3G-Regeln, die eigentlich dazu motivieren sollten, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, werden mittlerweile aufgehoben, und Omikron als mildes Erkältungsvirus abgestempelt. Beides suggeriere, dass vom Coronavirus keine große Gefahr mehr ausgeht, dabei bleibe Sars-CoV-2 weiterhin ein ernst zu nehmender Krankheitserreger.
Das betont auch das RKI in seinem Wochenbericht – und empfiehlt allen Ungeimpften schnellstmöglich eine Covid-19-Impfung. Weil nach wie vor ein „sehr hoher Infektionsdruck“ in Deutschland herrsche, rät die Behörde ferner, unnötige Kontakte zu meiden, auf Reisen und größere Veranstaltungen zu verzichten und die AHA+L-Regel (Abstand, Hygiene, Alltag mit Maske und Lüften) einzuhalten. Wie das Infektionsgeschehen weiter verläuft, hänge davon ab, „wie stark infektionsrelevante Kontakte im Rahmen der geplanten Lockerungen zunehmen“.
„Freedom Day“ – ja, oder nein?
Und was wird aus Deutschlands „Freedom Day“ am 20. März? Ist der angesichts der aktuellen Entwicklung beim Infektionsgeschehen überhaupt vertretbar?
„Meiner Meinung nach ist das der falsche Zeitpunkt, um fast alle Maßnahmen aufzuheben“, sagt Virologe Stürmer. Über Lockerungen müsse am Ende auf Basis der Infektionszahlen entschieden werden, und nicht anhand von Kalenderdaten. „Ich hoffe, dass man am 19. März das Infektionsschutzgesetz nicht komplett auslaufen lässt, sondern zumindest den Ländern die Möglichkeit gibt, eigene Maßnahmen ergreifen zu können.“
Zu stoppen sei ein Anstieg der Corona-Fallzahlen in jedem Fall nicht mehr. „In den nächsten Tagen und Wochen steht uns einiges bevor“, so Stürmer. Wie weit die Inzidenzen nach oben klettern werden, lasse sich zurzeit nicht vorhersagen.
Höchstwahrscheinlich wird es auch wieder regionale Unterschiede geben. Schon jetzt zeigt sich etwa, dass die Inzidenzen in Sachsen-Anhalt, Hamburg und Bayern zurückgehen, aber in Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern wieder zunehmen. „Der jüngste Anstieg der Inzidenz ist sehr stark durch einzelne Regionen getrieben“, bestätigt Mathematiker Fuhrmann. „Bei zeitnahen weiteren Lockerungen wird bundesweit die Inzidenz noch einmal deutlich steigen, bevor das Infektionsgeschehen bis zum Auftreten einer neuen Variante oder bis zum Herbst – je nachdem, was eher eintritt – in sich zusammenfällt.“
(RND)